Auf der anderen Seite des Tales

Auf der anderen Seite des Tales

Aufzeichnungen

Die Ansichtskarten betrachtete ich, konnte die Schrift aber kaum entziffern. Viele der Dokumente dienten dem Nachweis der arischen Abstammung. Mein Interresse aber galt den grauen Schulheften. Einige stammten offensichtlich noch aus Schultagen, wo in ungelenker Schrift Buchstaben und Worte mehrfach in vorgegebenen Zeilen mit Ober- und Unterlängen wie gemalt zu erkennen waren. Unbeschriebene Seiten in den Heften waren wohl dem Ferienbeginn geschuldet. Tintenkleckse, einige wenige, hatten sich in willkürlicher Art ihren ungeziemen Platz auf Seiten zwischen Geschriebenem verschafft. In einem der Hefte fand ich gepreßte Blumen und Gräser. Auf einem grauen Deckblatt stand das Wort Graz, nichts weiter. Ich fing an zu lesen.

Die Neue tobte. Handfesseln, Fußfesseln, dann die Spritze, die das kurzzeitige, befristete Vergessen im Schlaf schenkte. Ich saß mit einem altem Buch im Raum. Blicklos gebrauchte ich die starken Augengläser, um was zu erkennen. Die andere sprach sehr schnell und ihre Hände waren immer in Bewegung. Die Tage vergingen, aus den Neuen waren Alte geworden. Tragik, die niemandem bewußt wurde, denn Tragik war nichts Außergewöhnliches, nicht einmal etwas Besonderes. Niemand litt unter der Dumpfheit. Eine geschlossene Gesellschaft von Zerbrochenen, die irgendwie, irgendwo nicht fertig geworden sind, – draußen. Ich brütete vor mich hin und verlor das Gefühl für Zeit. Wieder kam eine Neue. Sie wusch das Geschirr ab in einer Kaserne, wollte nicht in der Küche arbeiten, sie wollte keine menschlichen Gemeinsamkeiten. Doch sie wollte nur noch gemein sein mit dem Abwaschwasser, in das sie ihre Hände hielt. Sie wollte sterben. Man hatte ihren Magen ausgepumt. Sie sprach sehr leise und kaum verständlich. Sie verbarg ihr Gesicht in ihren ausgelaugten Spülhänden, verdeckte die Tränen. Es wurde viel geweint. Und wieder kam eine Neue. Ihre Augenbrauen waren dicke schwarze Linien und die vergewaltigte Vergangenheit hatte sich in ihr Gesicht gezeichnet. Ordinär sah sie aus, verfault ihr Gebiss. Wenn sie den Mund öffnete nahm ich einen süßlichen Geruch wahr. Einige Zähne fehlten.

Aus dem Schulheft meiner Mutter

Geometrische Figuren tanzten vor meinen Augen. Im Kopf hämmerte die Forderung: Der Durchmesser des Kreises ist die Diagonale des Quadrates. Das Quadrat umschließt nicht den Kreis, sondern der Kreis das Quadrat. Der Kreis, der Kreis, eine Diogonale, ein Durchmesser. Unter den nackten Füßen gab der Boden nach. Verkrüppelte Weiden versperrten den Weg. In einem Tümpel lagen vermodernd Reste eines Bettes. Ich spürte den Zerfall auf meiner Haut. Mir graute. Eine Handvoll Asche schwamm den Fluß hinunter, zu neuen Ufern und nirgendwo Menschen. Ich sah sie, meine Schuhe kamen den schmalen ausgetretenen Pfad herunter und das feuchte Gras an den Rändern berührte das Innere. Ich war im tiefen Tal angekommen. Sie hielten mich fest an meinen Gelenken, und ich denke, denke.

Aus dem Schulheft meiner Mutter

Ich stand auf. Eine Schwere lag auf meinen Gedanken, als sollten sie sich mit dem Gelesenen vereinen. Es war zu ruhig. In den Figuren der Wolken suchte ich nach Lösungen, nach Hinweisen, um nicht zu verzweifeln. Ich hatte schon lange vorher geahnt, daß ich sie suchen würde, ihre Spuren. Sie sollte mich heimholen, ja, das sollte sie. Ihr tiefes Tal nahm auch mich gefangen, aber dieser Zustand war leichter zu ertragen, als so manche meiner Depressionen, die ich oft in den Städten verspürte, hier und anderswo.

Im Haus hörte ich keine Geräusche. Die Sophie besuchte im Dorf ihren Bruder und machte Besorgungen. Ich wollte raus, über die Wiesen streifen und höher wandern, auf die andere Seite des Tales. Und dieses Ziel galt mir im doppelten Sinn.

Nächste Folge auf http://www.weltenquerung.de/findelschwester