Taler

Taler

Eigentlich wollte Taler sein Leben wieder auf die Füße stellen. Dieser wiederkehrende Wunsch schien an einer Art von Flatterhaftigkeit zu scheitern. Eine Art von Befindlichkeit, die eher Frauen zugeschrieben wird, aber zur Gänze auf ihn zutraf. Heute war wieder einer dieser miesen Tage. Die Stadt erstickte im Schnee und Eis, auch die Straßenbahnen hatten den Betrieb wegen vereister Oberleitungen eingestellt. Er war so, wie er es oft machte, ohne Fahrschein, mit der 11 von einer Endstation zur anderen gefahren. Die Kontrolleure kannten ihn schon, sahen meist von einer Anzeige ab und wiesen ihn nur aus der Bahn. Heute an diesem kalten, unwirtlichen Tag versteckte er sich zwischen den Sitzen, zog sich die Kapuze ins Gesicht und hoffte unentdeckt zu bleiben. Der Fahrer blickte nur kurz in den leeren Fahrgastbereich, stieg aus und schloß die Türe. Die Straßenbahn war nun außer Betrieb. Taler machte es sich bequemer, doch Kälte breitete sich zunehmend aus. Einige Schlucke Alkohol brachten ein wärmendes Gefühl in seinen Körper, vorerst. Die Flasche verwahrte er wieder vorsichtig in seinem Rucksack. Gedankenspiele, ein Für und Wider, und auch ein Wieder, beschäftigten ihn, bevor er einschlief. Die Ankunft eines Werkstattwagens weckte ihn. Er hörte Stimmen, konnte aber durch die beschlagenen Fenster nichts sehen. Sein Dasein bemitleidete er, so als wäre es unausweichlich hier und jetzt, zwischen den Sitzen einer Staßenbahn der Linie 11, aufzuwachen. Von den Gedankenspielen des Vortages strich er das Für und Wider; er entschloß sich zu Wieder. Wieder auf Bittgang zu seinem Vater zu schleichen, wieder einmal. Wie er das hasste und sich dafür verachtete.

Als Taler in die Langgass einbog, sah er zwei Frauen vor dem Hoftor stehen. Sie waren in ein Gespräch vertieft und er versuchte , als er näher kam, unbemerkt und schnell vorbei zu gehen. Doch Frau Maritza, aus dem Vorderhaus, stellte ihn, «Willi, na sowas. Besuchst deinen Vater, wie geht es dir?». Ihre Gesprächspartnerin verabschiedete sich kurz und Maritza legte nun mit einem Redeschwall, der durchaus freundlich war, los. «Ja-ja, ich weiß, ist nicht einfach mit deinem Vater», dabei strich sie über Talers Oberarm. «Danie würde sich freuen, wenn du in den nächsten Tagen, – komm vorbei», meinte sie noch und fuhr fort, Salz auf den eisigen Gehweg zu streuen. Taler war erleichtert, einer Konversation, die doch eher einseitig war, zu entkommen. Über den holprigen Innenhof gelangte er zur Haustüre. Die behauenen dunklen Pflastersteine lagen noch unter einer dünnen Schneedecke. Maritza wohnte schon seit ewigen Zeiten im vorderen Teil des winkeligen Fachwerkhauses, anfangs mit ihrer Familie. Nun versorgte sie das kleine Anwesen, Werkstatt und einen kleinen Garten, der ganz hinten lag. Talers Vater wohnte im Hinterhaus über der Werkstatt. All das war sein Eigentum, «grundbücherlich» eingetragen, so wie es von Taler Senior oft betont wurde.

Taler zitterte in der Kälte. Er konnte kaum mehr unterdrücken. Auf dem Metallschild neben der Klingel war «Taler» in schnörkeligen Buchstaben eingraviert. Es war noch ein geduldetes Relikt seiner Mutter, die schon vor Jahren das Weite gesucht hatte. Er drückte auf den einfachen Klingelknopf, kurz danach hörte er Vaters schwere Schritte, die die steile Holztreppe nach unten polterten. Die Türe ging nach außen auf. Beide Männer standen sich einander kurz sprachlos gegenüber. «Guten- «, sagte Taler, als er von seinem Vater unterbrochen wurde, «das werden wir noch sehen, Sohn». Mit einer Handbewegung wies er ihn die Treppe hoch, «ziehe die Schuhe aus, den stinkenden Parka auch». Vaters Stimme klang noch, so wie eh und je, nach Exerzierplatz. Taler war nun entspannter, diesmal hatte Vater die Türe nicht vor ihm, in agressiver Weise, zugezogen.

«Und«. Taler Senior richtete dieses Wort an seinen Sohn, «und». «Nichts, nichts, ich», mehr bekam er daraufhin nicht zu hören. Bedrückend war die kalte Gemeinsamkeit bei Tisch. Der Vater beobachtete seinen Sohn argwöhnisch, verachtend aber auch irgendwie ungläubig. Sein älterer Sohn, Konrad, war so ganz anders geraten. Erfolgreich, zielstrebig und unaufhaltsam auf der Karriereleiter nach oben. Nun, als ein Experte im Nahen Osten und der Geheimhaltung verpflichtet, waren seine Besuche ausgeblieben, ebenso auch Nachrichten. Taler Senior vermißte ihn, obwohl, niemals würde er darüber ein Wort verlieren. «Du kannst unten im Hinterzimmer der Werkstatt bleiben bis es wärmer wird». Es klang nach einer Feststellung und nicht nach Einladung seines Vaters, der sich dabei in der Küche zu schaffen machte. Mit den vor Kälte noch steifen Fingern strich Taler die angebotenen Brotscheiben, um immer wieder nach der Tasse mit heißem Kaffeegebräu zu greifen. «Ja, und?». «Ja, das ist gut, sehr gut, danke, danke», kam überschwenglich die Antwort des Sohnes. Mit dieser Art, die ihm zuwider war, konnte er seinen Vater bei Laune halten. Hier zu sitzen und sich zu wärmen, Vater erwartete dafür Dank. Das Hinterzimmer war auch geheizt und allemal besser als der feuchte Wohnwagen, den er vor Jahren billig angekauft hatte, auf dem Dauercampingplatz. Auch dafür Dank, unterwürfig, «danke Vater.»

Taler holte aus seinem Wohnwagen benötigte klamme Wäschestücke, die zerknüllt in seinen Seesack paßten. Lebensmittel, Wein und wenige Dinge, die der Körperpflege dienten, verstaute er in einer Plastiktasche mit eingerissenen Trageschlaufen. Muffige, feuchte Luft erschwerte das Atmen und er war nun doch zufrieden, daß er bei Vater Unterschlupf gefunden hatte. In der wärmeren Jahreszeit war hier natürlich vieles einfacher. Der Wohnwagen war nicht zu heizen, Taler hatte auf Strom aus Kostengründen verzichtet. Er kochte auf einem kleinen Gaskocher, wo es in erster Linie Essen aus der Dose gab. In der Stadt wußte er um mehrere Möglichkeiten, an warmes Essen oder auch Kleidung zu kommen. Statt die abgetragenen Klamotten aufwendig zu waschen, warf er sie meist irgendwo in eine Mülltonne, – sie waren dann zu verdreckt für den Kleidercontainer, und er besorgte sich aus einem Kleiderladen Ersatz. Es gab in seinem Leben auch andere, bessere Zeiten, als selbständiger Fotograf. Irgendwann waren die Schulden ins Unermeßliche gestiegen, er verlor Wohnung und, und… . In seiner Rechtfertigung machte er dies für seinen Niedergang verantwortlich, seine Spielsucht als Ursache verdrängte er erfolgreich. Inzwischen war er clean geworden, dank einer Therapie, die er im Gefängnis machen konnte. Bewaffneter Raub hatte die Anklage gelautet. Er war geständig gewesen, mit guter Prognose. So konnte er nach Verbüßen der Strafe irgendwie neu anfangen. Neu anfangen, das war der Kauf des Wohnwagens auf einem Dauercampingplatz. Er hatte ihn günstig erworben, eigentlich ein Totalschaden nach einem Hochwasser. Taler machte ihn wieder einigermaßen bewohnbar, jedenfalls für seine Bedürfnisse. Im Gefängnis war etwas Geld geflossen, für Arbeiten in der Werkstatt, das natürlich gut dafür zu gebrauchen war.

Am Eingang des Campingplatzes meldete er sich für die nächste Zeit ab, eventuell ankommende Post wollte er abholen. Hier war er gemeldet mit Hauptwohnsitz.

Für seinen Vater war er nur ein Nichtsnutz, ein Parasit und Knastbruder. Er sollte sich nach Möglichkeit nicht mehr blicken lassen in der Langgass. Konrad und Onkel Peter, ein Halbbruder seines Vaters, waren im Nahen Osten verschollen. Diese Vermutung war nach Talers Überzeugung wahrscheinlicher, als Vaters Loblieder über die beiden Familienmitglieder. Helden in Vaters Augen, keine Versager, so wie er. Stramm vorwärts gerichtet waren Vaters Ansichten mit Wünschen nach fester Führung in dieser verlotterten Zeit und fester Hoffnung an einer Wiederkehr der Ruhmreichen. Erinnerungen, Gedanken beschäftigten ihn auf dem Weg zu seinem Schlafplatz und auch mit dem was noch so kommen sollte. Der Schnee im Hof war grau geworden. Vor der Werkstatt, die schon lange keine mehr war, blieb er kurz stehen. Nein, er wollte jetzt nicht mit Vater sprechen, sich melden, nein. Die Türen war unverschlossen, auch die des Hinterzimmers. Er fand den Weg vorbei an abgestellten Maschinen, sonstigem Gerümpel, das gehortet worden war, schon vor Jahren, als seine Mutter noch hier lebte. Staub und gesponnene Netze umhüllten das Inventar der Werkstatt. Ein Inventar, das niemand mehr benötigte und das auch nicht auf einer Liste zu finden wäre. Vor dem Zimmer blieb Taler kurz stehen und sah ungläubig auf die mit Kratzern übersäte Türe. Eigentlich waren es Furchen, die in der Mitte besonders ausgeprägt wirkten. So sehr er auch grübelte, er fand keine Erklärung, auch keinen noch so kleinen Erinnerungsfetzen. Wie war das passiert? Er kannte die Türe nur in diesem Zustand. Sofa, Kommode, Haken an der Wand, ein zerschlissener Teppich, Stuhl, Bettzeug, Waschbecken, die gesamte Ausstattung, stellte Taler zufrieden fest . Ein Fenster zum Garten, ein warmer Heizkörper, funktionierende Deckenlampe und ein alter Radioapparat. Er fühlte sich gut und packte seine Bekleidung aus, streifte sie glatt und verteilte sie im Zimmer. Der feuchte Geruch mischte sich mit warmer Luft und bald darauf war das Fenster beschlagen. Taler nahm die Stücke und legte sie in der Werkstatt zum Trocknen aus. Alles andere fand einen Platz auf der Kommode oder auch in einer der Schubladen, die klemmten. Das Klo war, wie er wußte, draußen neben der Werkstatt, vom Hof aus zu erreichen. Verstohlen suchte er die Toilette auf, um weder seinem Vater noch Maritza aus dem Vorderhaus zu begegnen. Zurück im Zimmer ließ er sich auf’s Sofa fallen, zog seine Schuhe aus und schlief ein, nach langer Zeit in einem warmen Zimmer.

An einem der folgenden Tage, Taler hatte sich schon etwas eingelebt, hörte er lautes Hämmern an der Werkstatttüre. «Willi, bist du da», rief Daniel, ein Freund aus Jugendzeiten. Er stand schon mitten in der Werkstatt, als Taler die Zimmertüre öffnete. «Na, alter Kumpel, bist wieder mal hier», dabei griff Daniel freundschaftlich nach Taler, versuchte ihn leicht an sich zu ziehen. Es blieb bei diesem Versuch. «Komm, hier im Zimmer ist es wärmer», meinte der Besuchte und bot auch eine Sitzgelegenheit an. «Die Türe sieht ja immer noch so zerkratzt aus. Hat sie niemand ausbessern wollen, hm. Du weißt schon was da passiert war?» wurde Taler gefragt. Er schüttelte den Kopf, «nein, was- keine Ahnung.» Beide verstummten kurz. «Soll ich dir das überhaupt erzählen? Ich war dabei – das heißt, ich kam kurz vor dem Ende dazu, ein grauenhaftes. Ich glaube es war noch die Zeit kurz vor meinem Schulbeginn, oder danach», meinte Daniel. Taler versuchte sich auch an diese Zeit zu erinnern. Unscharf formte sich das Bild, ja, seine Mutter lebte noch hier, sie waren noch eine Familie. Er ging zur Schule, so seine Erinnerung.

«Wo – soll ich– anfangen? —Soll ich -« Daniel stockte anfangs in seinem Bericht. Erst allmählich kamen Worte, dann die Sätze weniger holprig aus seinem Mund. «Dein Onkel Peter und Konrad steckten oft beisammen, taten mir gegenüber geheimnisvoll. Einmal belauschte ich die beiden hinten im Garten. Konrad bastelte unter Anleitung einen Galgenknoten nach leisen Angaben und stetiger Kontrolle seines Onkels. Ich wunderte mich eigentlich nicht, wenn ich mich recht erinnere. Doch wozu war das Erlernen, die Herstellung, eines derartigen Knotens mit Schlinge notwendig ? War die Schlinge zugezogen konnte sie nicht mehr gelockert werden, – wie Kabelbinder. So weiß ich es heute.» Taler wirkte fast sprachlos, doch in seinem Kopf wirbelten Fetzen von Eindrücken ungefiltert, beängstigend und ungebändigt. «Im hinteren Keller fand ich einmal einige komische Stricke, die so aussahen wie du sie beschreibst», sagte er zu seinem Schulfreund und fügte hinzu, «manchmal war ich dort eingesperrt». Ein Verließ war es in seiner Erinnerung.

«Die Katze deiner Mutter, erinnerst du dich, sie.. hier an dieser Türe», Daniel unterbrach sich, um dann leiser fortzufahren und Talers Hand zu berühren, «erinnerst du dich an die Katze?» Taler nickte und spürte eine bedrohliche Enge in seinem Halsbereich. «Sie haben-, sie wurde hier erhängt. Den Strick hatten sie über die Türe gelegt und weitergezogen bis sie hing und um das letzte ihrer sieben Leben kämpfte. Als ich kam waren Konrad und dein Onkel noch hinter der Türe. Ich sah nur die fast leblose Katze. Die beiden scheuchten mich hinaus und ich solle den Mund halten, sonst würde es mir ähnlich ergehen. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe das bisher noch niemanden erzählt.» Beide schwiegen.

Daniel war gegangen und Taler versuchte seine Gedanken wieder einigermaßen zu ordnen, was ihm nicht leicht fiel. Es dämmerte schon, als er sich aufraffte, sein Zimmer zu verlassen. Um die Häuser ziehen und versuchen in dem von Fachwerk geprägtem Viertel im Jetzt zu landen; das wollte er. Erst am Flußufer schaffte Taler diesen Versuch. Schwäne warteten, auf ihn? Dies wäre schön, aber eher, natürlich, unwahrscheinlich. Er hatte sich beruhigt und ein inneres, unbewußtes Lächeln verdrängte die Angespanntheit seines Körpers.

Als er wieder die Langgaß erreichte, herrschte dort offensichtlich Verkehrsstau. Weiter in Richtung seines Zieles sah Taler das Blinken eines Rettungswagen. Er näherte sich etwas erstaunt, um dann sofort von Maritza unter Beschlag genommen zu werden. Sie wirkte aufgeregt. Die Rettung setzte sich abrupt in Bewegung, mit eingeschalteten Blaulicht, um dann, auch noch lautstark hörbar, auf dem Weg in eine Klinik zu fahren. «Willi, dein Vater, dein Vater – vor dem Haus habe ich gefunden, – lag im Hof.» Aus Maritza sprudelten die Worte ungezügelt, ohne für Taler die Hintergründe erfahrbar zu machen. «Was ist passiert, » fragte er nach, doch er bekam von ihr lediglich eine Art Formular ausgehändigt. «Sie wollten wissen wo Angehörige sind», erklärte nun Maritza,» da habe ich deinen Namen genannt. Du wohnst ja jetzt hier? Ich, ich, – alles ist jetzt auch zuviel für mich. Du sollst dich melden, anrufen oder so. -Telefonnummer steht auch auf dem Formular.»

Talers Gedanken formten sich zu einem Hassgebirge, vermengt mit Entsetzen, Verachtung und verborgener Genugtuung. Was würde ihm jetzt bevorstehen. Er hoffte auf den Tod seines Vaters, eines Vaters, der diese Bezeichnung für sich beanspruchte. Einen Vater der ihn als, ja, als was eigentlich sah, dafür gab es keine Bezeichnung, keine Beschreibung. Im Zimmer hinter der Werkstatt versuchte Taler seinen aufkeimenden Hass und Vernichtungswillen zu bändigen. Soll er doch krepieren. Doch diese Gefühle erkalteten allmählich. Nichts weiter. Taler wollte sich nicht darum scheren, wollte nichts in die Wege leiten oder auch nur einen Besuch am Krankenbett absolvieren. Er dachte an seine Kontakte im Sozialamt, die sollten sich kümmern aber nicht er.