Fremde Nähe

Fremde Nähe

Irgendwie hatte ich mich bei Fanni als Untermieterin gefühlt, doch ich wollte auch wieder zurück in mein Tal. War dies schon ein klein wenig als Heimatgefühl zu deuten, was überraschte und ich auch mißtrauisch wahrnahm. Die Besuche bei meiner Mutter waren ernüchternd. Meist war sie nur körperlich anwesend, sah mich allerdings freundlich an. An manchen Tagen wirkte sie verstört, unruhig und gab unverständliche Laute von sich. Spaziergänge mit ihr wurden mir im Heim vorgeschlagen, aber ich fühlte mich dabei unsicher und fand das auch problematisch. Einmal schlug sie nach mir und beschimpfte mich als Miststück. Ich fühlte mich hilflos. Eine Annäherung oder emotionaler Zugang zu ihr war mir nicht möglich. Ich versuchte sie dreimal pro Woche zu besuchen. So vermeinte ich einen gewissen Gewöhnungseffekt bei ihr hervorzurufen. Meist sahen wir einander an, hilflos wirkend auf beiden Seiten. Ihr immerwährendes gestikulierendes Fliegenfangen war auf Einschlüsse im Glaskörper der Augen zurückzuführen. Die mouches voulantes, fliegenden Mücken, trieben bei Augenbewegungen ihr Unwesen. So wurde mir bewußt, daß nicht hinter allen Absonderlichkeiten nur ihre Demenz ursächlich war. Der Austausch mit dem Pflegepersonal war meist nur kurz, aber hilfreich. Mit Jörg, jenem Pfleger, den ich bei meinem allerersten Besuch getroffen hatte, fand ein intensiverer Austausch statt. “Versuch’ es doch einmal mit Singen oder Vorlesen”, forderte er mich, wir duzten uns inzwischen, auf. “Ich kann doch nicht singen..”, erwiderte ich. “Doch, du kannst”, stellte er kurz und sachlich fest. Ich wollte mich demnächst mit Fanni beraten.

Der kleine “Tiger”

Als ich von einem meiner Besuche zurückkam saß Fanni in der Stube und ordnete einen Stoß von Gehäkeltem für Neugeborene. “Fanni, ja, woher stammt denn diese Ausstattung?”, fragte ich erstaunt und breitete eines der Jäckchen aus. Fanni seufzte, “das ist nur aus einem der vielen Kartons meiner Schwester .” “Aber für wen …, sie hatte doch keine Kinder”, fragte ich weiter. Fannis Katze legte sich an meine Seite und schnurrte. Sie hatte ihre Vorbehalte mir gegenüber vor längerem abgelegt, der kleine “Tiger“.

Ich lehnte mich zurück und spürte die Vertiefungen der warmen Ofenkacheln. Fanni faltete die nie von einem Säugling getragenen Stücke, und es waren viele an der Zahl. Seitlich im Karton steckten einige Fotos und Postkarten, – vergessen.

“Meine Schwester wollte heiraten”, sagte Fanni und sah dabei auf die Säuglingsausstattung. “Sie hatten sich einander versprochen, verlobt, und alles schien…”, Fanni unterbrach sich und suchte unter dem Tisch ein kleines Patscherl, das hinuntergerutscht war. “Vater machte den Beiden einen Strich durch die Rechnung. Er wollte keine Kuh verkaufen, um die Mitgift aufzubringen. Du mußt wissen, wir waren zwei Schwestern und drei ältere Brüder. Sie war die Jüngste und ich sollte, und wollte erst auch wohl, ins Kloster bei Wien als Novizin. Meine Brüder waren sofort weg von zuhause, als die Mutter gestorben war. Der Vater war zunehmend ungerechter geworden und sein Jähzorn verfestigte sich in den Jahren noch. Meine Schwester blieb und nahm ihr Schicksal an, sie begehrte nicht auf. Wir Geschwister einigten uns, als der Vater starb, ihr das kleine Haus zu überlassen. Die Felder, das kleine Stück Wald konnten wir verkaufen, ebenso die drei Kühe, die damals noch im Stall standen. Sie aber blieb einsam und verlernte das Sprechen. Ihr Verlobter war im Krieg geblieben und ich in Wien. Mein Leben im Kloster hatte ich abgebrochen und eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Meine Kontakte hierher waren auf einige wenige Besuche im Jahr beschränkt. Meine Schwester fing an zu häkeln und zu stricken, das Ergebnis siehst du hier.” Ich dachte an meine Mutter, auch sie hatte das Sprechen verlernt,wurde zurückgeworfen, wohin, keiner weiß es. Ich ging nach draußen. An der Südseite des Hauses setzte ich mich auf die Bank und versuchte mich an einer Melodie, die ich ihr, meiner Mutter, bei meinem nächsten Besuch vorsummen, vielleicht auch vorsingen, wollte. Der Text war mir nur bruchstückhaft in Erinnerung, als ich die Worte in jener typischen Sprachfärbung leise vor mich hinsagte. Ich versuchte mich in Mathildes Aussprache, was, wie mir schien, doch ganz gut gelang. Der Schnee taute schon und die Sonne wärmte mich. Der kleine Tiger kam freudig auf mich zu, sprang elegant auf die Bank und schmiegte sich an mich. Sein Schnurren erklang regelmäßig und ich summte die Melodie etwas holprig, doch das störte hier niemanden.

Bei meinem nächsten Besuch im Heim wirkte meine Mutter lethargisch. Es schien mir kein guter Tag, sie mit meinem eingeübten Gesumme, um nicht zu sagen Gesang, zu überrraschen. Ich wollte es trotzdem versuchen. Erst widerstrebend, doch plötzlich willig, ließ sie sich von mir auf den sonnigen Teil der Terrasse führen. Eine kleine Holzbank war, wie so oft, unser Ziel. Wir setzten uns. Sie blickte leer in die Ferne, als ich anfing zu summen und bald folgte der Melodie der Text, “in die Berg bin i gern und da gfreut si mei Gmüat wo die Almröserln wachsn”, hier stimmte meine Mutter ein, “und der Enzian blüaht-“. Sie sah mich an und ihre Augen glänzten, als sie die nächste Strophe anstimmte, “und der Schnee geht bald weg und es wird wieder scheen”, nun sang ich auch wieder mit, “und hiazt wer i bald wieda auf die Alm aufi gehn”. Ich war angerührt und meine Augen kämpften gegen Tränen, – warum eigentlich? Sie stand auf und tanzte vor mir auf und ab und sang, “Miststück, Miststück…”. Fröhlich wirkend, erschien mir dieses Wort nun eher ein Ausdruck ihrer übermütigen Befindlichkeit, denn als eine abwertende Bezeichnung. Sie kam auf mich zu und umarmte mich.

“Bist’ endlich wieder zurück, Madele”, mit diesen Worten empfing mich die Geischler Sophie. “Hast’ was ausrichten können, sog’ schon”, fuhr sie neugierig fort. “Wie man’s nimmt,” erwiderte ich, dabei zog mich die Sophie an den Tisch und wies mir einen Platz zu. “Ich mach dir glei an Tee, -so wie immer, gell, ” sagte sie und machte sich sogleich in der Küche an die Arbeit. “Von meiner Schwester hab’ ich nur eine Telefonnummer bekommen und das nur mit einer kleinen Notlüge im Heim. Sonst habe ich mich darum noch nicht gekümmert. Die wissen außerdem noch nicht, daß ich auch eine Tochter bin-“. Sophie unterbrach mich, “gut, da gehst erst zum Notar, der kann dir sicher weiterhelfen. Dokumente beschaffen…”. Das Teewasser kochte. Sophie wendete sich ab um aufzugießen. “Was ich nicht verstehe ist dieses Gerede über den Tod meiner Mutter, seinerzeit und auch später. Das war doch nicht richtig “, forschend sah ich die Sophie an. Sie schwieg. “Ich geh’ noch hinunter zum Baron, brauchst nicht auf mich zu warten.” Nachdenklich meinte sie, “dein Bett ist oben, wie immer gerichtet. Schläfst ja doch noch hier? Es tuat ma leid….”. Also wußte sie anscheinend doch mehr als sie sagen wollte. Meinen Koffer hievte ich die Treppe hoch und stellte ihn im Zimmer ab. Viele meiner persönlichen Sachen hatte ich bereits im geerbten Häuschen untergebracht. Es gab nicht viele Dinge, die mir wichtig waren und die ich mit mir herumschleppte. Ich nahm eine Jacke aus dem Koffer und hängte sie über die Schultern. Ende Mai wurde es hier abends noch kühl und ich wollte heute ein weiteres Gespräch mit Sophie vermeiden, wollte erst spät zurückkommen. Auf den Weg hinunter nahm ich die Abkürzung am Tümpel vorbei. Frösche sonnten sich und nahmen die Wärme in sich auf, ich aber spürte ein Frösteln, als ich an meine Zukunft dachte und was davor lag.