In Worte gefaßt

In Worte gefaßt


Noch immer Herrenmensch

Der Schichtbeginn fixierte sich an manchen Morgen auf die Frage, wer den Mann auf Zimmer 10 versorgen sollte. Das war eine spezielle Entscheidung, und die Pflegerin aus Kroatien schied von vornherein aus. Sie, eine Angehörige einer Minderheit, war bei und von diesem Mann nicht geduldet. Brüllend hatte er sie mehrmals aus dem Zimmer gewiesen, bis sie nicht mehr in die Auswahl kam. Die Schicht sollte möglichst komplikationslos verlaufen. Der Mann aus Nummer 10 war im hohen Alter noch immer flammender Anhänger der Herrenmenschentheorie, die er auch hier auslebte, ungeachtet seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeiten. Ein großer massiger Mann, der seine NS-Devotionalien stolz zur Schau stellte und mit den Pflegern im Kasernenhofton, oder noch schlimmeren Lagerörtlichkeiten, kommunizierte. Das Bandagieren seiner lädierten Beine nahm einige Zeit in Anspruch, in denen er die Handelnde beobachtete und kommandierte, sie antrieb es, das Bandagieren, flinker zu machen. Wenn das Wickeln unter Stress einmal nicht gut funktionierte, ergoß sich ein wüster Auswurf von Wortfetzen auf die erstarrende Pflegekraft. Er schien sich im Bett aufzubäumen und ergötzte sich an devoter Ängstlichkeit. Paroli boten ihm nur einige wenige Pflegekräfte in Form von sachlicher und bestimmter Aussagen und einem “so nicht”.


Taunuskinder

Tagsüber im Rollstuhl schienen manche Albträume, die für sie keine solche waren, sondern eine tägliche existierende Gefahr, verflogen. Sie wähnte sich noch immer im Krieg. Wenn die Dämmerung in ihr Zimmer zog, nach dem frühen Abendbrot und dem folgenden Zubettgehen, wurde ihre Angst überbordend und Fragen häuften sich, die nicht beantwortet werden konnten. “Der Krieg ist vorbei, keine Angst, alles ist gut”, wurden mit erneuten Fragen, die immer hektischer wurden, quittiert. Was hatte sie erleben müssen, diese Fragen konnte auch ihre Nichte, als einzige Anverwandte, nicht beantworten. Genervt war eine milde Beschreibung für das, was so manche Pflegekraft empfand. Wie umgehen mit dieser Frau? Woher rührte diese Angst ? Ihre nächtliche Unruhe vermischte sich mit gellenden Schreien, wie die eines Tieres, und die Überdosierung mit Psychopharmaka führte noch weiter, wenn auch weniger hörbar, in den Wahn. In Gesprächen mit der selten zu Besuch kommenden Nichte wurden Anker ausgeworfen nach Örtlichkeiten, Tätigkeiten, Erlebnissen und diese gesammelt, aufgeschrieben und ausgewertet. Eine Pflegeschülerin vertiefte sich in diese Aufgabe und machte daraus ihre Projektarbeit.

Ein Schlüsselwort: Kinder. Sie, eine Frau um die 90, hager und resolut, war ehelos geblieben und auch kinderlos. Aber das Wort Kinder löste Erstaunen und sogleich Fragen aus, forderte Antworten. Einige der Pflegekräfte versuchten nun, gemeinsam mit der Schülerin, eine Geschichte um diese Kinder zu weben. “Sie sind in Sicherheit, es kann nichts mehr passieren. Sie sind gut versorgt im Hintertaunus, niemand kann sie finden”, lautete nun eine Antwort auf die brennende Frage. Allmählich öffnete sich ein Erlebnishorizont, der in die Gespräche einfloß. Sie wurde ruhiger und obwohl für sie der Krieg noch nicht zu Ende war, – die Kinder befanden sich in Sicherheit im Hintertaunus.


Die Knute

Sie war eine kleine, stählern wirkende Frau, die auch im Alter Wert auf Schmuck und fuchsrote Haare legte. Ihr manchmal beißender Humor verschreckte wohl so manchen früheren Verehrer, so erzählte sie. Doch diese Art von Humor, um nicht zu sagen Lebenseinstellung, hatte ihr das Leben gerettet. Großbürgerlich im alten Rußland aufgewachsen, verbarg sich hinter der Fassade ihres generösen Vaters, einem hohen Militär, ein knutenschwingender Erzieher. Anlässe für diese Art von Züchtigung fanden sich häufig, um diese Methode in der Praxis umzusetzen. Schmerzen wurden, so gut sie es konnte, negiert. Bei darauf folgenden Mahlzeiten konnte sie sich kaum auf dem harten Stuhl halten, geschweige denn in aufrechter, geziemender Art sitzen. Dann wurde der Nagelstuhl herangeschafft. Seine Rückenlehne war an regelmäßigen, ausgesuchten Stellen mit Nägeln gespickt, die ein Anlehnen nicht möglich machten.

Auf seltsame Weise erzählte sie diese Erfahrungen mit dem Hinweis, “wenn mein Vater mich nicht so gezüchtigt hätte, wäre ich heute nicht mehr am Leben. Im sibirischen Lager wäre ich krepiert.” Dabei schmunzelte sie in einer gewissen Art, man könnte meinen, sie hätte all dem, ihrem Schicksal, ein Schnippchen geschlagen.



Gewollt und ungewollt

In der dritten Etage, ganz oben im Klinikkomplex, befand sich die Abteilung für das anstehende Praktikum der Pflegeschülerin. Sie war bereits im zweiten Ausbildungsjahr und war zwar in gewisser Weise angespannt, so wie bei jeden neuen Aufgabengebiet, das in ihrer Ausbildung noch bewältigt werden mußte, doch auch neugierig auf die neuen Aufgaben. Die gynäkologische Abteilung umfaßte auch zwei Sechsbettzimmer für Wöchnerinnen, die etwas abgesondert neben dem Personenaufzug lagen.

Meist durften die Patientinnen aufstehen und so war die rein pflegerische Arbeit eine nicht allzu schwere. Die Schülerin fügte sich gut in das Team ein. Das Bettenmachen wurde in Windeseile erledigt, sodaß auch viel Freiraum blieb. In der ersten Praktikumswoche wurde die Routine des Tages durch einen beginnenden Abortus einer Patientin unterbrochen. Die Schülerin beobachtete, wie umsichtig das examinierte Pflegeperonal mit der Situation umging. Die Anamnese und auch Prognose waren bekannt. Die Schülerin blieb bei der Patientin und beide waren sprachlos in dieser Situation.

Einige Minuten später wurde die Schülerin in den Fäkalienraum gebeten, wo ein zuckender Fötus in eine Nierenschale gelegt wurde. Das Kreuz wurde über dieses Etwas geschlagen, eine Nottaufe, wie man erklärte, und sie solle melden, wann sich dieses Etwas nicht mehr bewegen würde. Ein tonnenförmiger Behälter mit stechend riechender Flüssigkeit stand neben dem Ausguß. Darin sollte das Notgetaufte dann versinken.

Irgendwann, – wenn genug Seinesgleichen darin lägen, würde der Inhalt zur “Weiterverarbeitung” abgeholt werden; so sagten sie.

Die Schülerin vermeinte, das müsse so sein. Erst in späteren Jahren konnte sie reflektieren und nahm von so manchem Pflegeprodukt Abstand. Für manche der Frauen waren es Ungewollte, aus welchen Gründen immer, andere waren verzweifelt, daß sie die Gewollten verloren hatten. www.weltenquerung.de/zuletzt

Austherapiert

Wo das Leben an seine Grenze stößt und der Körper nur ums Überleben kämpft gibt es keine Gedanken. Doch die Haut reagiert noch auf Berührung, die gleichmäßig und ohne Unterbrechung den Rücken entlang spürbar wird. Einbahnen, auf denen Hände im Wechsel und im steten Kontakt großflächig streichen. Mit oder gegen die kaum erkennbare Behaarung.

Stress, der sich manifestiert in Schweißausbrüchen, hohem Muskeltonus und gesteigerter Atemfrequenz, mitunter in cerebralen Ausnahmezuständen. Nahrung, die den Körper versorgt aus Beuteln und Schläuchen, bilanziert nach Körpergewicht.

Atmen über die Trachealkanüle, – kommt eine Fliege und setzt sich auf die Wange, so bleibt sie ungestört.

Passives Bewegen; die Gelenke verkümmern und die Embryostellung droht, kein Gedanke dazu, – nach einem Autounfall vor Jahren.


Passionsblume, die einen Grabstein schmückt

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