Das Kind

Das Kind


Der Zaun, der das Grundstück abgrenzte, roch nach frischer Teerfarbe. Eigentlich war es nur ein Schutzanstrich, der alle paar Jahre zu erneuern war. Zu diesem Zweck wurden die hölzernen Felder ausgehängt und das Kind konnte dann ungehindert über den Sockel in die angrenzende Wiese, weiter in den Wald oder ans nahe Flußufer streunen. Es hatte geheime Plätze gefunden, die obwohl verboten, doch auf Umwegen zu erreichen waren. Süße Walderdbeeren, gepflückt im Dickicht und zu späteren Zeiten Brombeeren, füllten den Kindermund. Im feuchten Schwemmsand am Flußufer spurten die nackten Füße seltsame Muster und im Kinderkopf entstanden dazu abenteuerliche Geschichten. Es war allein mit sich und ganz bei sich.

In seinem Zuhause, lange Zeit in einem “Behelfsheim”, eigentlich einer bessere Baracke, mit der über Jahre andauernden Hausbaustelle nebenan, wurde das Kind versorgt. Es war wißbegierig. Einzig das Radio, auf einem kleinen Regal über der Ottomane, war die oft sehnsüchtig erwartete Verbindung zu Unbekanntem, Neuem. Es saß da gerne und die Nachmittagssonne schickte die Strahlen in die kleine Wohnküche mit Herd und Wasserschiff. Nur hier konnte geheizt werden. Das Plumpsklo befand sich draußen neben einem Schuppen, in dem einige Hühner ihr Auskommen hatten. Ein kleiner Hasenstall, ziemlich massiv gebaut vom Vater des Kindes, beherbergte in wechselnder Besetzung Kaninchen. Bevor ein Hasenbraten auf den Tisch kam wurde der ungarischstämmige Nachbar gebeten, das Tier zu schlachten und das Fell abzuziehen. Das Ausweiden übernahm Mutter. Das Kind beobachtete dies emotionslos und nahm kaum Anteil am Verschwinden von ausgewachsenen Kaninchen. Lediglich um ein schwarzes “Häschen”, mit Vorliebe für restlichen Kaffeesud, kam Trauer auf, obwohl das Kind dieses Gefühl nicht beschreiben konnte und es stumm für sich behielt.

Vater war meist abwesend und erschien nur alle zwei bis drei Wochen für kurze Zeit, um dann an der Hausbaustelle “weiterzuwerkeln”. Ziegel wurden gegossen, Beton mit der Handschaufel gemischt, geschalt und die Kellerwände hochgezogen. Einzig die Kellerdecke erforderte mehrere Helfer aus der Nachbarschaft. Das Kind störte bei diesen Arbeiten und fühlte sich verscheucht, nichts weiter. Es suchte sich seine eigene Welt. Neben der unbegrenzten Natur, die noch weit ins Land reichte und deren Bäumen das Kind Namen gab, sie umarmte, stand es nach Streifzügen vor kleinen oder auch größeren Häusern. Das Kind lächelte und zog verlegen an seinen Haaren, doch bald schon wurde es hineingebeten in den Garten oder auch in das Haus. Vieles war fremd in den Häusern und Gärten, an den Leuten, an Menschen, die es sah und denen es zuhörte.

Der Alten, sie lebte an einem Feldweg weiter weg, wurden hinter vorgehaltener Hand Hexengeheimnisse angedichtet. Das Kind sollte dieser Frau fern bleiben. Doch zu groß war die Neugierde und so war die Behausung, mit der Schneckenzucht im hinteren Teil des Grundstückes ein, wie das Kind sich selbst versicherte, oftmals zufälliges Ziel auf dem Weg nach Hause. Der Wohnraum war alles zugleich, vollgestellt und die Sitzgelegenheiten mit Zeitungen und Büchern voll besetzt. Das Kind hockte vor der alten Kredenz oder blieb an diese gelehnt stehen, lauschte den Geschichten, bewunderte Keramikfiguren, oder, waren sie aus Porzellan, staunte über das mit bräunlichen Flecken verzierte Gesicht und konnte den eigentümlichen Geruch wahrnehmen, den diese Frau von sich gab. Sie rauchte selbstgedrehte Zigaretten in einer Zigarettenspitze, die sie zwischen den Fingern hin und her drehte. Mit einem Lächeln als Dank ging das Kind zurück. Mutter wußte von diesen Besuchen, der festgesetzte Zigarettenqualm verriet das Kind. Es folgte die ungeliebte Waschprozedur von den Haarspitzen bis Zehen in einer großen emaillierten Waschschüssel.

Der ungarische “Hasenschlachter” wohnte mit seiner Frau und Sohn nebenan. Die Frau, eine Wienerin, erweckte die Neugierde des Kindes durch ihr Aussehen. Sie schien selten zu arbeiten, oft lag sie sommers vor dem Haus und streckte ihre rot lackierten Fingernägel von sich. Der Sohn, einige Jahre älter als das Kind, wirkte maulfaul aber auch irgendwie nett. Er konnte aus jungen Haselnußästen funktionierende Trillerpfeifen schnitzen, aus isolierten bunten Drähten viereckige Schlüsselanhänger fertigen und war ansonsten oft im Schlepptau seines Vaters unterwegs. Im Wohnzimmer des Hauses gab es eine Falltreppe in den Keller, wo die Erträge aus dem Garten gelagert wurden.


Hinter der ganz besonders geheimnisvollen Haustüre eines weitläufigen Anwesens, die sich nur selten für das Kind öffnete, bewegte sich bei Luftzug ein Glockenspiel. Mit bunten Drachen verzierte Stofffahnen bestätigten dem Kind die abenteuerlichen Geschichten von chinesischer Ferne, Hongkong, Singapur. Die Familiengeschichte war in der Siedlung bekannt. Mutter meinte, sie gehörten zu den “Besseren”. Damit war die Familie gemeint. Der jüngste Sohn des Hauses, einige Jahre älter als das Kind, schien manchmal Gefallen an gemeinsamen Streifzügen zu finden. Weit und breit fand das Kind keine Spielgefährten gleichen Alters. Streitbar wurde es bei und durch das gemeinsame Stromern mit diesen Älteren, alles Buben aus der näheren Umgebung. So erschien einmal die Mutter eines Kontrahenten, um sich über das Kind zu beschweren. Es hatte zum zweiten Mal sämtliche Knöpfe bei einer Rauferei am Hemd des Sohnes abgerissen und nicht nur das, die Knopfleiste war so eingerissen, daß das Hemd nur mehr für wochentags taugte.

In der Schule saß das Kind ruhig, schien aufmerksam, doch die Gedanken schweiften durch die Wälder, am Fluß entlang und über die Felder. Mutter wurde zur Lehrerin gebeten. Das Kind sei ein “Wurschtel”, so die knappe Beurteilung. Mutter sagte nichts, auch auf dem Heimweg fielen keine Worte. Für das Kind war “Wurschtel” ein nichtssagender Begriff. Schnell wechselte es die Schulkleidung, die mußte geschont werden und machte sich auf in seine Welt. Mit einer Ringelnatter um den Arm gewickelt suchte es nach der Rückkehr Mutter in der Kellerwaschküche des Rohbaues auf. Es wartete auf Lob, auf Dank, – es wußte eigentlich nicht worauf, aber es wurde mit Handbewegungen verscheucht. Die Ringelnatter erhielt wieder ihre Freiheit.

Das Kind bestand Mutproben, um von den älteren Buben anerkannt zu werden und “mitmachen” zu dürfen: mit selbstgebauten Steinschleudern über den Fluß die “feindlichen” Buben aus dem anderen Dorf beschießen, Lianen rauchen, im Winter auf Eisschollen mitschwimmen und bei Hochwasser im Fluß baden. Eine Weinbergschnecke steckte das Kind mitsamt Haus in den Mund und schloß diesen, um die Schnecke danach wieder ins Gras zu setzen. So hatte es wieder für einige Zeit das Soll an Mutproben erfüllt.

Kinderfasching

Viele waren auf den Beinen, um am Umzug teilzunehmen. Das Kind war von zwei der älteren Buben aufgefordert worden mitzukommen, um sozusagen als Gruppe kostümiert aufzutreten. Mutter war damit einverstanden gewesen, mochte sie doch nicht mit dabei sein. So ließ sie das Kind ziehen.

Die Drei hatten sich verspätet, der Umzug durch die Siedlung war schon beendet, und die Kinder in ihren Kostümen hatten gemeinsam mit Erwachsenen den großen Saal des einzigen Gasthauses im Ort gefüllt. Musik spielte und neben dem Stimmengewirr wurde auch gesungen, als die drei Nachzügler in den Saal kamen. Sie waren als Soldaten verkleidet. Die Stimmen verstummten, nur die Musik vom Tonbandgerät trällerte weiter, bis es abgestellt wurde. So standen sie an der zweiflügeligen Eingangstüre in Orginalwehrmachtskleidung, Stahlhelme auf den Kopf, mit geschnitzten Holzgewehren an Ledergurten und rötlich-braun geschminkten Gesichtern. Es dauerte eine Weile bis die Wirtin auf die Gruppe zukam, sie hinausschickte und die Türe wieder schloß. Die Buben lachten und klatschten in die Hände, das Kind aber konnte nicht verstehen, was da eben passiert war. Es nahm den für ihren Kopf zu großen Helm ab und schwenkte ihn wie einen Korb. Bunte Papiergirlanden, Reste des Umzuges, sammelte das Kind unterwegs ein und der Stahlhelm wurde immer voller. Ein rotes Herz aus Filz, es lag in einer Pfütze aus geschmolzenen Schnee, wanderte ebenfalls in das Behältnis. Die beiden Begleiter waren schon schnell vorausgelaufen. Das Kind trödelte vor sich hin in Gedanken bei dem Geschehenen. Es ging ohne Umwege nach Hause, geschminkt, in Uniform mit Filzherz und Girlanden.

Mutter erschrak.

Streetart in Bratislava

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